Nachdem Kyel gegangen ist, verlasse ich ebenfalls den Raum. Gedankenverloren gehe ich die langen, weißen Gänge entlang. Alles sieht gleich aus: Die Wände sind weiß gestrichen, der Fußboden besteht aus weißen Fliesen und eine Wandseite ist komplett aus Glas, sodass man auf den Innenhof mit den weißen Brunnen und den weißen Rosen blicken kann. Nach weiteren zehn Minuten bleibe ich stehen. „Wo bin ich hier?“ Ich habe mich verlaufen… Ich beschleunige meinen Schritt und erreiche einen Gang, der den anderen Gängen nicht mehr ähnelt: An der Wand sind goldene Verzierungen und eine Seite aus Glas ist nicht mehr vorhanden. Da entdecke ich eine Tür, die einen Spalt offen ist und blicke vorsichtig in den Raum. Kyel und zwei andere Erzengel sitzen an einem Tisch, ich bin anscheinend im Wohnbereich der Erzengel gelandet. „Ist der Neuzugang gut angekommen?“ Sie sprechen über mich! Ich spitze meine Ohren und höre gespannt zu. „Ja. Wie besprochen habe ich ihr den Namen Hikari gegeben, es gibt auch keine besonderen Auffälligkeiten“, antwortet Kyel. „Gut“, erwidert ein anderer Erzengel, den ich allerdings nicht sehen kann, „Es ist trotzdem sonderbar, dass wir bald noch einen Neuzugang aus derselben Region bekommen werden. Das moderne Leben wird immer gefährlicher.“ Der Erzengel seufzt. Anscheinend stirbt bald noch jemand, der in meiner Nähe gewohnt hat. „Ach, du meinst Hirota Shunsuke? Es ist tragisch, dass er nur noch eine Woche leben wird…“, sagt Kyel betroffen. Als ich den Namen höre, schlägt mein Herz schneller. Ich kann nicht mehr richtig denken und renne einfach los. Ich muss so schnell wie möglich auf die Erde! Da entdecke ich einen Raum, auf den „Für Unbefugte kein Zutritt“ steht. Der Raum hat eine besondere Anziehungskraft auf mich… Ich gehe hinein und entdecke eine goldene Tür, auf der „Erde“ steht. „Hier bin ich richtig“, flüsterte ich erleichtert. „Was steht da auf der Tür? ‚Denke beim Öffnen an den Ort, an den du gelangen willst…‘“ Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und öffne die Tür…

Ich stürze hinab. Meine Flügel sind zu klein, um mit ihnen zu fliegen. Auf einmal entdecke ich ein Gebäude, das mir im tiefsten Inneren bekannt vorkommt. Es sieht aus, als sei das eine Schule. Mit aller Kraft versuche ich mit meinen Flügeln, den Sturz etwas abzufangen. Dies gelingt mir, mein freier Fall verlangsamt sich und ich stürze in eine Baumkrone. Diese fängt mich nicht gerade auf, ich stürze weiter hinab und lande unsanft auf den Boden. „Aua! Das tat weh…“, sage ich mit weinerlicher Stimme, während ich mein Steißbein reibe. „W-Was zum…?!“ Ein Junge steht neben mir und starrt mich fassungslos an. Ich kann meinen Augen kaum trauen… Da steht tatsächlich Shunsuke vor mir… „Bist du bescheuert?! Du hättest dich ernsthaft verletzen können! Wie bist du überhaupt angezogen?!“ Wütend starrt er mich an. Vor Schock bringe ich immer noch kein Wort über meine Lippen. Als Shunsuke mir seine Hand reicht, um mir hoch zu helfen, holt mich die Realität wieder ein: Seine Hand gleitet durch die meine, für ihn bin ich durchlässig. Er starrt mich fassungslos an. „Was… ist hier los?“ Daraufhin nehme ich all meinen Mut zusammen: „Hallo. Mein Name ist Hikari. Ich bin ein Engel.“ Ich lächle ihn an. „Ein Engel?! An so einen Unsinn glaube ich nicht!“ Wieder starrt er mich fassungslos an und massiert dann seine Augen. „Ich glaube, ich habe zu wenig geschlafen… Ich sehe ja schon Halluzinationen…“ Shunsuke dreht sich um und will gehen. „Warte! Bitte…“ Ich stelle mich vor ihn, doch er ignoriert mich und geht an mir vorbei. Was habe ich denn auch anderes erwartet? Ich gehe einfach überstürzt zur Erde… Alles nur wegen ihm… Meiner ersten Liebe… Allerdings hatte ich mich nie getraut, ihm meine Gefühle zu gestehen. Und trotzdem: Nachdem ich zu einem Engel wurde, konnte ich mich nicht einmal an meinen Namen erinnern… Die einzige Erinnerung, die mir blieb, war Shunsuke! Auch wenn diese Erinnerung verschwommen ist, meine Gefühle für ihn haben sich nicht geändert. „Reiß dich zusammen!“, sage ich zu mir selbst, „Ich kenne nur Shunsuke und wie ich in den Himmel zurückkomme, weiß ich auch nicht…“ Ich habe mich entschieden. Ich werde Shunsuke davon überzeugen, dass ich existiere…