Die nächsten Tage verlaufen sehr gut. Shunsuke ignoriert mich nicht mehr so stark und wir verstehen uns immer besser. Schon als ich noch lebte ist mir aufgefallen, dass er sich immer etwas zurückgezogen hat und eines Tages fasse ich den Mut ihn zu fragen, woran das liege. „Ich habe nicht viel mit anderen zu tun… Für sie bin ich wohl etwas arrogant oder mürrisch.“ Ich merke, dass das Thema für ihn unangenehm ist und ich nehme mir vor, ihn nicht mehr darauf anzusprechen. Freitagabend, ich sitze gerade auf Shunsukes Bett und höre der Musik zu, die er angeschaltet hat, fragt er mich plötzlich, wie es denn so im Himmel wäre. „Hm… Wie kann ich es am besten beschreiben… Es ist alles weiß! Die Gänge, die Wände, die Zimmer, selbst die Rosen sind weiß! Und es gibt im Zentrum einen schönen weißen Brunnen.“ Er hört mir gespannt zu und ich erzähle weiter. „Je näher man den Gängen zu den Erzengeln kommt, desto mehr Goldschmuck findet man. Richtig luxuriös und doch wirkt es nicht aufgedrängt. Es sieht alles so friedlich aus… Auch wenn ich den Anblick vorerst nur kurz genießen konnte…“ Ich schrecke innerlich hoch, da ich mich verplappert hatte. „Nur kurz? Bist du noch gar nicht so lange ein Engel?“ Dieses Thema will ich eigentlich vermeiden, doch die Suppe habe ich mir nun selbst eingebrockt… „Ja, ich bin erst vor kurzem… wie soll ich es ausdrücken… aufgewacht und fand mich als Engel im Himmel wieder.“ Shunsuke schaut mich weiter interessiert an. „Sag mal… Eine Frage brennt mir auf der Seele… Bevor du ein Engel warst…“ Alles nur das nicht! Frag mich alles nur das nicht! „Onii-chan!“ In diesem Moment betritt seine kleine Schwester Hina das Zimmer und ich atme auf. „Hina. Was ist los?“ Sie drückt ihm ein Papier in die Hand. „Ich habe von einem Engel geträumt. Du hast sogar mit ihm geredet!“ Wir beide schauen sie erstaunt an und blicken dann auf das Bild. Man kann eine kleine Ähnlichkeit mit mir erkennen und ich muss lachen. Natürlich hört Hina das nicht. „Und? Wie findest du das Bild?“ Shunsuke grinst ebenfalls und antwortet: „Es ist sehr schön geworden.“ „Der Engel ist ganz lieb! Und er versteht sich gut mit dir!“ Ich laufe leicht rot an und Shunsuke grinst. Musste Hina das sagen? Genau den Nagel auf den Kopf getroffen... Mannomann... „Onii-chan? Hast du den Engel getroffen?“, fragt Hina plötzlich. „Was?!“, antworten wir beide erstaunt im Chor. Kann sie mich etwa sehen? Das kann eigentlich nicht sein… „Du bist in letzter Zeit fröhlicher! Da dachte ich, du hättest deinen Engel getroffen.“ Er steht auf und streichelt seiner Schwester über ihr Haar. „Hm… vielleicht ist der Engel ja in meiner Nähe“, antwortet er sanft. Mein Herz pocht mir bis zum Hals, als er das sagt. „Gaaaanz sicher. Der Engel hat dich gern!“ „Ach ja?“, fragt er amüsiert und schaut dann zu mir rüber. Schnell drehe ich mich um und murmle „Kleine Kinder… Was die nicht alles wissen…“ „Onii-chan! Das schenke ich dir!“ Sie gibt ihm das Bild von dem Engel und verlässt dann das Zimmer.

Shunsuke setzt sich neben mir auf’s Bett. „Hier, das Bild ist für dich.“ Ich bin so verlegen, dass ich mich nicht traue, ihn anzuschauen. „Nein, das hat sie dir geschenkt…“ „Aber das Bild stellt doch dich dar!“ Ich schaue ihn verlegen an und er grinst. „I-Ich kann es eh nicht behalten… Hänge es doch im Zimmer auf…“ „Okay, dann machen wir das so.“ Anscheinend scheint er seinen Spaß an der Situation zu haben. Dabei habe ich mich eben richtig erschrocken… Er hängt das Bild an seine Pinnwand und setzt sich dann wieder neben mich. „Meinst du, dass Hina übersinnliche Kräfte hat?“ Bei dieser ernsten Frage bin ich jetzt diejenige, die lacht. Er starrt mich eingeschnappt an und ich antworte schnell: „Nimm’s mir nicht böse, aber sie ist nur ein Kind. Das kann gar nicht sein. Sie hat eine gute Fantasie und sie kennt ihren Onii-chan gut, weiter nichts.“ „Wenn du meinst…“ Aber ich muss Hina danken, denn sie hat verhindert, dass er mir eine unangenehme Frage stellt. Dieser Frage könnte ich nicht gut ausweichen… „Zu meiner Frage vorhin…“ „Was?!“, erwidere ich erschrocken und starre ihn nervös an. Er scheint dies zu bemerken und schüttelt den Kopf. „Nein, schon gut.“ Erleichtert schaue ich ihn an. „Mal was anderes… Hatte Hina Recht? Hast du mich wirklich gern?“ Shunsuke schaut mir tief in die Augen und lehnt sich zu mir rüber. Ich lehne mich immer weiter nach hinten, bis ich auf dem Rücken liebe. Shunsukes Gesicht ist nah über meinem und er guckt mir direkt in die Augen. Mein Herz rast und ich kann kaum klar denken… War jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen? „Ich…“, beginne ich zögernd…